Andreas Koller

Die "Wahrheit" über die Juden

(Abgedruckt in: Salzburger Nachrichten, 10. April 2012)


Antisemitismus-Alarm. Grass ist kein Einzelfall. Die Welt reagiert immer dann empört, wenn Israel sich erfrecht, aus der ihm von der Geschichte zugedachten Opferrolle zu fallen. Und wieder die klassische Täter-Opfer-Umkehr, diesmal vorgenommen von Günter Grass. In seinem Gedicht "Was gesagt werden muss" unterstellt der Literaturnobelpreisträger dem Staat Israel, mit einem "Erstschlag" das "unterjochte" iranische Volk "auslöschen" zu wollen.

Mit den Fakten hat das wenig zu tun. In Wahrheit plant Israel keineswegs einen (atomaren) Erstschlag gegen das iranische Volk, und schon gar nicht dessen Auslöschung. Vielmehr behält sich Israel einen nicht atomaren Schlag gegen das iranische, gegen Israel gerichtete Atomwaffenprogramm vor. Das sind die Fakten, doch auf die kommt's nicht an, wenn Israel als Täter vorgeführt werden soll und der Iran als Opfer. Und wer den "ohnehin brüchigen Weltfrieden" gefährdet, versteht sich von selbst, zumindest für Herrn Grass: Israel, wer sonst.

Es ist kein Zufall, dass gerade in diesen Wochen zwei lesenswerte Bücher auf den Markt gekommen sind, die den Antisemitismus zum Thema haben: "Vergesst Auschwitz" von Henryk Broder (Knaus-Verlag); und "Die große Abneigung" von Maximilian Gottschlich (Czernin-Verlag). Broder liefert bemerkenswerte psychologische Erklärungen für den Schuld-Transfer, der (nicht nur von Grass) an die Adresse Israels vorgenommen wird. Motto: Wir (Deutsche und Österreicher) haben zwar seinerzeit nichts gegen den Völkermord an den Juden unternommen. Das machen wir aber gut, indem wir heute (etwa mit mutigen Gemeinderatsresolutionen) den Völkermord an den Palästinensern verhindern. Damit schlagen wir zwei Fliegen mit einer Klappe: Wir erleichtern uns das Gewissen und relativieren gleichzeitig den Opferstatus der Israelis.

Dass in Palästina gar kein Völkermord stattfindet und dass die Verbrechen der Nazis an den Juden nicht einmal im Ansatz mit der Politik Israels gegenüber den Palästinensern verglichen werden können, ist eines dieser lästigen Fakten, die die wackeren Täter-Opfer-Vertauscher nicht weiter stören.

Anders im Ansatz, aber ähnlich im Ergebnis argumentiert Gottschlich: Schuld am Antisemitismus sind nach Auffassung der Antisemiten nicht etwa sie selbst, sondern die Juden. Beziehungsweise der Staat Israel, der es nicht achselzuckend zur Kenntnis nehmen will, wenn palästinensische Raketen in seinen Städten landen und der Iran, dessen Präsident Israel auslöschen möchte, an einer Atombombe bastelt.

In der Tat stehen Israel und seine Politik dermaßen im Fokus der Kritik, dass es schwer fällt, dahinter keine antisemitischen Reflexe zu vermuten. Als vor knapp zwei Jahren die israelische Armee ein Schiff der sogenannten "Friedensflotte für Gaza" stürmte, hagelte es weltweit wütende Proteste. Selbst der Wiener Gemeinderat, üblicherweise eher prosaischen Dingen wie der Erhöhung der Kanalgebühren zugeneigt, gab in einer einstimmigen (!) Protestresolution seiner Empörung Ausdruck. Die Welt wartet mit Hochspannung auf ähnliche Resolutionen des Wiener Gemeinderats gegen den im Zuge des dortigen Bürgerkriegs verübten Völkermord an Tamilen in Sri Lanka. Oder gegen die Unterdrückung in Tschetschenien, Nordkorea und Weißrußland. Oder gegen die Zustände in China und Kuba. Oder gegen das Gemetzel des syrischen Regimes am syrischen Volk. Oder gegen das mittelalterliche Strafrecht in Saudi Arabien und im Iran. Oder gegen die Unterdrückung der Frauen in Afghanistan.

Allein: Solche Protestresolutionen wollen nicht kommen. Solche Protestresolutionen kommen immer nur dann, wenn Israel sich erfrecht, aus einer ihm von der Weltgeschichte zugedachten Opferrolle zu fallen. Und so werden (etwa in heimischen Boulevardmedien) die Raketen der Hamas auf Israel wörtlich als "Lausbubenstreiche" verharmlost, während jede israelische Vergeltungsmaßnahme nach Meinung der selben Kommentatoren verlässlich den Weltfrieden gefährdet. Selbst eine harmlose Einrichtung wie der "Tel-Aviv-Beach" an den Gestaden des Wiener Donaukanals löst ebenso reflexartige wie wütende Proteste aus. Jede Wette: Gäbe es einen Pjöngjang- oder einen Havanna-Beach, gälte dessen Besuch als Nachweis einer urbanen und politisch völlig korrekten Bobo-Haltung.

Wie gesagt: Es ist schwer, nicht einen latenten Antisemitismus hinter dieser Stimmungslage zu vermuten. Und wenn Günter Grass seinem Gedicht den Titel: "Was gesagt werden muss" gibt, so bedient er auch damit, bewusst oder unbewusst, die Reflexe der Antisemiten. Denn deren Mantra seit 1945 lautet ja, dass man in diesem Lande leider, leider "nicht die Wahrheit sagen" dürfe. Vor allem nicht über die Juden. Jetzt darf man wieder.


« zurück