Monika Schwarz-Friesel

Antisemitismus 2.0 oder: Wer so denkt, mordet wieder

Veröffentlicht in: Die Presse/Spectrum, 2. 5. 2020. Mit freundlicher Genehmigung der Autorin und der Tageszeitung Die Presse


75 Jahre ist es her, dass sich die Tore des Konzentrationslagers Mauthausen öffneten und das Menschheitsverbrechen an der jüdischen Bevölkerung Europas in seinem ganzen Ausmaß zutage trat. Doch während wir feierlich gedenken, lebt draußen die Welt, die nichts gelernt hat, den uralten Antijudaismus aus.

Wir blicken heute zurück. 75 Jahre ist es her, dass der Zweite Weltkrieg ein Ende fand, dass sich die Tore des Konzentrationslagers Mauthausen öffneten und dass das Menschheitsverbrechen der Nationalsozialisten an der jüdischen Bevölkerung Europas in seinem ganzen Ausmaß zutage trat. Doch was wir Holocaust oder Shoah nennen, sind Chiffren für den in der Vergangenheit liegenden Massenmord; für nach dem Krieg Geborene und vor allem für junge Menschen sind es nur Abstrakta ohne Realitätsbezug. In wenigen Jahren wird es keine Holocaust-Überlebenden mehr geben, die persönlich Zeugnis ablegen können, die vor den jungen Menschen als konkret erfahrbare Personen von der Fassungslosigkeit, dem Schmerz und der Verzweiflung berichten können, dem Einbruch des Irrsinns und der Gewalt, der ihr Leben zerbrach.

Wie soll es ohne sie gelingen, bei den folgenden Generationen Verständnis und Empathie zu wecken, damit die Erinnerung lebendig und mahnend bleibt für die Zukunft? Wie soll man über das Grauen sprechen, ohne sprachlos zu werden, wie soll man würdig gedenken, ohne in Entsetzen und Trauer zu verstummen? Wie soll man fassen, was doch unfassbar ist?

Wie soll es gelingen, die Vergangenheit für die Gestaltung der Gegenwart heranzuziehen? Eine Gegenwart, die sich seit Jahren dadurch auszeichnet, dass Judenhass nach wenigen Jahrzehnten der rein oberflächlichen Eindämmung wieder sichtbarer und immer lauter in Erscheinung tritt: in den Schulen, auf den Straßen, wo Übergriffe und Straftaten drastisch zugenommen haben, und im wichtigsten Kommunikationsraum des 21. Jahrhunderts, dem Internet, wo der verbale Hass sich mit Wucht hemmungslos austobt und durch die neuen digitalen Prozesse allein quantitativ in seiner Ausbreitung ein historisch präzedenzloses Ausmaß erreicht hat.

Während wir feierlich gedenken, lebt draußen die Welt, die nichts gelernt hat aus der Erfahrung Auschwitz, den uralten Antijudaismus aus. Im belgischen Karneval findet man es lustig, KZ-Wärter-Verkleidete mit Hakenkreuzen neben Häftlingskostümen tanzen zu lassen, in Polen werden auf den Märkten Figuren von Kaftanjuden mit Goldsäcken am Mantel verkauft, in Ungarn raunt man von ominösen Geld- und Machtmenschen und zeigt dabei auf jüdische Mäzene. Nicht nur in Teheran, sondern auch in den Hauptstädten Deutschlands, Englands und Österreichs grölen muslimische Demonstranten den Untergang des jüdischen Jerusalems und den Tod des Zionismus herbei. Weltweit werden Holocaustgedenkstätten von Neonazis und Rechten geschändet. Zugleich unterzeichnen in der ganzen Welt linke Intellektuelle Boykottpetitionen und erklären, das Existenzrecht eines jüdischen Israels sei für sie keine Staatsräson. Und im World Wide Web verbreiten sich gerade in diesen Wochen der Corona-Pandemie krude antisemitische Verschwörungsfantasien und judeophobe Schuldzuweisungen, die wie bei den mittelalterlichen Pestausbrüchen Juden kollektiv verantwortlich machen und das "jüdische Virus" als "zionistisch gezüchtet in den Laboren Israels" derealisieren.

Dies ist kein neuer Antisemitismus: Hier zeigt sich, modern adaptiert, die alte Judenfeindschaft, denn Judenhass ist ein Chamäleon. Im Wandel der Jahrhunderte passt sich seine Oberfläche den jeweiligen Gegebenheiten opportun an, ohne jedoch seine Struktur zu verlieren.

Die jüngsten Umfragen in Europa bestätigen diese Tendenz: Jeder fünfte befragte Europäer glaubt, dass ein jüdisches Netzwerk die Fäden der Finanzwelt ziehe, jeder vierte denkt, Juden nützten den Holocaust für ihre Zwecke aus. Jeder fünfte befragte Deutsche gibt an, die Juden würden zu viel über den Holocaust reden, und man solle die Vergangenheit ruhen lassen.

Wer so denkt und fühlt und spricht, der tötet wieder. Der ermordet nach 75 Jahren die sechs Millionen jüdischen Frauen, Männer und Kinder noch einmal mental, indem er den Zivilisationsbruch relativiert und das Leid der Opfer sowie das Trauma ihrer Nachkommen mitleidslos verhöhnt. Vor allem aber zeigt der, der so spricht, dass er die Bedeutung der Shoah für die Welt und die menschliche Existenzberechtigung nicht begriffen hat: Gerade den nicht jüdischen Menschen sollte es ein dringendes, ein zwingendes moralisches Bedürfnis sein, die Erinnerung wachzuhalten, gerade die nicht jüdische Welt sollte das "Nie wieder!" als kategorischen Imperativ im modernen kollektiven Bewusstsein internalisieren.

Doch seien wir realistisch: Seit Langem dominiert beim Kampf gegen Antisemitismus eine reine Floskelkultur. Es werden bewegende Reden ohne Konsequenzen gehalten, es werden die üblichen Floskeln vom "Wehret den Anfängen" (über die wir längst hinaus sind), vom "Kampf mit Entschlossenheit" (der nicht zu sehen ist) und "mit aller Härte des Gesetzes" (was nicht praktiziert wird) produziert – und nach innigen Händeschütteleien sowie vielen Ermahnungsworten geht man den Tagesgeschäften nach.

Zwar vergeht kaum ein Tag, an dem nicht ein Workshop, eine Diskussion oder Veranstaltung zum Thema Antisemitismus stattfindet, kaum eine Woche, in der nicht eine Fernsehdokumentation, ein Radio-Feature oder Interview, eine Zuschauerbefragung oder ein Leitartikel in den Medien zu konstatieren ist. Werden diese Aktivitäten aber etwas bewegen? Etwas grundlegend verändern? Werden sie den immer offener auftretenden Alltagsantisemitismus eindämmen? Werden sie die Zivilbevölkerung aus ihrer Empathielosigkeit und ihrem Desinteresse reißen? Wird diese Bevölkerung den Jüdinnen und Juden in Europa und weltweit die wachsende Furcht nehmen? Wird endlich der so dringend benötigte Ruck durch die Gesellschaft gehen? Ich muss es leider bezweifeln. Denn ich sehe immer nur Lippenbekenntnisse ohne die notwendigen Konsequenzen.

Wir benötigen so dringend einen Paradigmenwechsel, der den Antisemitismus nicht nur in der Geschichte und nicht nur an den extremen Rändern lokalisiert, sondern im Alltagsdenken und -leben der Europäer und Weltbürger, einen Wechsel, der Judenhass als das definiert und bekämpft, was er wirklich ist: kein sozialpsychologisches Vorurteil unter anderen, sondern eine kulturelle Kategorie, die seit Jahrhunderten als Weltdeutungssystem fungiert, die auf Phantasmen im kollektiven Bewusstsein und beständig reproduzierten Mustern im kommunikativen Gedächtnis der westlichen Welt basiert.

Wer den aktuellen Antisemitismus in seiner Kontinuität, mit seiner ungebrochenen Hartnäckigkeit trotz der Shoah-Erfahrung und Faktenresistenz verstehen und damit effektiv bekämpfen will, der muss zurück zu seiner Genese, denn nur das Verständnis aus der Geschichte hilft zu begreifen, dass Judenhass ein unikales religions-, kultur- und geistesgeschichtliches Phänomen und nur als solches in seinem ganzen Ausmaß überhaupt zu verstehen ist.

In der Wiege des viel beschworenen Abendlandes liegen die Wurzeln für die Verdammnis der jüdischen Religion; hier liegt die Erklärung dafür, dass sich eine zunächst religiöse Feindseligkeit und ein Abgrenzungsbestreben im Laufe der Zeit zu einem Weltbild verfestigte, in dem Gut und Böse klar verteilt sind. Die Rolle des Üblen in der Welt wird den Juden zugewiesen, das Fantasiekonzept des "mörderischen, verkommenen, ungläubigen, machtgierigen und hässlichen Juden" wird als Glaubenswert etabliert. Judenfeindschaft, dieser kulturelle Un-Wert, offenbart die tiefschwarze Schattenseite der abendländischen Geschichte: Dies spiegelt sich in den Texten der frühen Kirchenväter wie Augustinus, den Schriften der mittelalterlichen Scholastiker, den Schmähreliefs an den Kirchen, den Predigten der frühen Neuzeit, den Texten der Aufklärung, den philosophischen Abhandlungen des Idealismus, den Romanen des Bildungsbürgertums, den Pamphleten, Hass- und Hetzschriften des 19. und frühen 20. Jahrhunderts und schließlich im Nationalsozialismus mit seiner rassistischen Ideologie und seinem eliminatorischen Judenhass, der zur systematischen, akribisch geplanten und bürokratisch betriebenen Massenermordung führt. Und der dies mit der Begründung vollzieht, es zum "Wohle der Menschheit" zu tun.

Es reicht also keineswegs aus, Kindern und Jugendlichen zu vermitteln, was im Holocaust geschehen ist. Sonst bleibt immer nur das rudimentäre Bild hängen, Juden seien zwischen 1933 und 1945 Opfer eines fanatischen Gewaltregimes geworden. Man muss erklären, warum es so passieren konnte, warum es gerade die Juden waren, die als Volk ausgelöscht werden sollten, und wie lang der Atem der abendländischen Differenzkonstruktion in ein manichäistisches "Gut und Böse"/"Richtig und Falsch" dabei wirkte.

Nur so kann man begreifbar machen, warum es zur Shoah kam. Nur so wird fassbar, dass Juden nicht, weil sie etwas taten oder nicht taten, verfolgt wurden, dass nicht einzelne Ereignisse oder Verhältnisse, nicht Sozialneid oder gesellschaftlich-ökonomische Faktoren verantwortlich dafür waren, sondern ein komplexer historischer Prozess, der als Abspaltung zweier Religionen begann und sich dann zu einem weltumspannenden Denk- und Gefühlsparadigma verdichtete, dessen Auswirkungen bis heute walten. Nur so lässt sich das alte, stets aufs Neue reproduzierte Kausalitätsargument, die Juden seien selbst schuld, dass man sie hasse, zerschlagen.

Eine umfassende Auseinandersetzung mit dem Phänomen der kulturell verankerten Judenfeindschaft jedoch steht bis heute aus. Trotz der ganz anders lautenden Forschungserkenntnisse der Expertinnen und Experten deuten Politik und Zivilgesellschaft den aktuellen Judenhass immer noch primär als ein Phänomen von Rechtsextremen, von ungebildeten und an den sozialen Rändern stehenden Personen. Doch Judenfeindschaft kam immer aus der gebildeten Mitte, bevor sie die Straße erreichte, und sie hat diese Mitte nie verlassen.

Judenfeindliches Gedanken- und Gefühlsgut findet sich seit Jahrhunderten in den Schriften der Hochgelehrten. Und 1933 waren es die Universitäten, die als erste Institutionen in Europa ihre jüdischen Professoren und Kommilitonen stigmatisierten und ausgrenzten. Bildung ist also keineswegs ein Garant, gegen die kulturelle "Kategorie Judenfeindschaft" vorzugehen.

Eine weitere Falschzuordnung steht der Erklärung und Bekämpfung im Wege, wenn Antisemitismus unter Xenophobie oder Fremdenfeindlichkeit subsumiert wird: Juden sind keine Fremden, es waren und sind integrierte Bürger des jeweiligen Landes, in dem sie leben, Tür an Tür mit nichtjüdischen Nachbarn. An ihnen war und ist nichts, was Xenophobie auslösen könnte. Gehasst wird das abstrakte Konzept. In der NS-Zeit waren es die Ärzte, Handwerker, die Händler, Schauspieler und Künstler, die Kommilitonen, Nachbarn, Freunde und Mitschüler, die Ehegatten, die in den Tod abgeholt wurden.

Blicken wir auf Wien: Ohne die erfolgreichen Anstrengungen einiger seiner Freunde im Jahr 1938 hinge nun an der viel besuchten Berggasse 19 folgende Plakette: "Sigmund Freud, Begründer der Psychoanalyse, vergast in Auschwitz."

Ohne Ansehen der Person, ohne Rücksicht auf den Schaden, den die Gesellschaften nahmen, als sie ihre Bürger aus der Mitte des Landes rissen, wütete der Hass. Dem alten Erlösungsglauben folgend, ohne Juden sei die Welt ein besserer Ort, wurde die Auslöschung betrieben, gerichtet einzig auf ein kulturell tradiertes Phantasma.

Aus diesem Grund sind auch die gerade in der jüngeren Vergangenheit inflationär auftauchenden Analogien und Parallelen in Bezug auf andere Diskriminierungsformen so irreführend und so schädlich, verhindern sie doch den angemessenen Umgang mit den jeweils verglichenen Phänomenen: Entsprechend ist der Vergleich zwischen Judenhass und Islamophobie nicht nur historisch und aktuell schlicht falsch, er versperrt auch den Blick auf die monströse Unikalität des Holocaust.

Dass der aktuelle Antisemitismus in direkter Kontinuität des alten Judenhasses steht, also ein Echo der Vergangenheit ist, zeigt sich nirgends so deutlich wie in den Kommunikationsräumen des Internets. Über vier Jahre Forschung zum Antisemitismus 2.0. belegen: Judenhass im Internet explodiert, in Quantität und Qualität. Und dies keineswegs nur im "Deep" oder "Dark Net" oder in den Foren und Plattformen der Extremisten und Fundamentalisten, sondern beim alltäglichen Twitter, YouTube, Facebook der normalen Userinnen und User.

Antisemitismen werden verbreitet auf Informations- und Ratgeberseiten, insbesondere denen für junge Menschen, sowie im Spaß- und Unterhaltungssektor. In den Online-Büchershops werden ohne jeden Warnhinweis volksverhetzende Schriften angeboten. Die Anzahl antisemitischer Online-Kommentare der deutschen Mainstream-Presse hat sich in zehn Jahren vervierfacht, die Zahl der Verschwörungs- und Gewaltfantasien auf Twitter und YouTube verdoppelt. Mit oft nur einem Klick bei Google-Suche stößt man auf antisemitische Stereotypkodierungen und Verschwörungsfantasien von der "globalen Macht der Zionisten" und dem "Weltenübel Israel", den "bösen Juden". Solche Äußerungen, die zum Teil seit zehn Jahren ungelöscht im Netz stehen, werden von Millionen Usern und Userinnen tagtäglich gelesen und weitergeleitet.

Im 21. Jahrhundert manifestiert sich die "moderne Endlösung" in Drohungen und Verwünschungen gegen das jüdische Israel. Klar zeigt sich die Kontinuität des klassischen Antijudaismus: Unabhängig, ob von Rechts, Links oder von Muslimen kommend, die Sprachgebrauchsmuster, die seit Jahrhunderten kollektiv verankert sind und zum Standardrepertoire von Antisemiten gehören, werden nahezu unverändert reaktiviert und benutzt, um Jüdinnen/Juden/Judentum sowie Israel zu diffamieren.

Überraschend ist dies, wie auch der Anschlag auf die Synagoge in Halle, und die vielen Straftaten nicht. Die empirische Antisemitismusforschung warnte bereits vor mehr als zehn Jahren, der Antisemitismus werde sich offener und selbstbewusster artikulieren, die Tabuisierungsschwelle werde sinken, würde nicht endlich etwas unternommen gegen die ausufernde judenfeindliche Rhetorik. Die Forschung gibt schon lang klar Auskunft, hat unzweideutige empirische Ergebnisse vorgelegt.

Wer kann also allen Ernstes behaupten, man habe es nicht gewusst?

Der alte Judenhass und sein Zerstörungswunsch werden auf den jüdischen Staat projiziert, weil dieser das wichtigste Symbol jüdischen Überlebens in der Welt ist. Gerade dieser Alltags-Antisemitismus, nachweislich seit Jahren die dominante Variante von Judenfeindschaft, ist aufgrund seiner Habitualisierung sowie seiner Camouflage besonders gefährlich, zumal er auch das Bindeglied für alle Formen des modernen Antisemitismus ist. Mit legitimer Kritik an der Politik Israels hat er nichts zu tun. Wer allen Ernstes behauptet, Kritik an israelischer Politik sei nicht möglich oder werde sanktioniert, der blendet aus, wie oft und wie scharf die israelische Politik weltweit, auch im deutschsprachigen Raum, kritisiert wird. Wer Slogans auf Demonstrationen wie "Kindermörder Israel" oder Plakattexte wie "Israel ist unser Unglück", Hashtags wie "Death-to-Israel" oder "Kill Zionism" nicht als antisemitisch sieht, der ist nicht auf einem, sondern auf beiden Augen blind. Die Omnipräsenz von Judenfeindschaft ist integraler Teil der Webkommunikation 2.0. Aufgrund der Relevanz der Netzpartizipation und seiner meinungsbildenden und identitätsstiftenden Funktion beschleunigt und intensiviert das Internet die Normalisierung von Judenfeindschaft in der gesamten Gesellschaft. Denn die virtuelle Welt ist längst integraler Bestandteil der realen Welt.

Wer diesen Hass als "Meinungs- oder Kunstfreiheit", "politische Kritik" oder "Demonstrationsrecht" verteidigt, der hat nichts aus der Geschichte begriffen. Wer das verbale Wüten zulässt, hat nicht begriffen, dass Hasssprache immer auch Gewalt ist, eine geistige Gewalt, die bislang stets die Grundlage für physische Gewalt war und ist. Auch geistige Brandstiftung ist am Ende immer nur eines: Brandstiftung.

Bezogen auf den gegenwärtigen Antisemitismus muss sich daher die Null-Toleranz-Politik gegenüber allen Manifestationen von Judenfeindschaft realisieren. Wenn die Gewaltbereitschaft von Neonazis und Rechtsradikalen benannt wird, darf das hohe Aggressionspotenzial des muslimisch-islamistischen Antisemitismus nicht verschwiegen werden. Wer die Holocaustrelativierung und die Erinnerungsabwehr von Rechtspopulisten anprangert, muss gleichermaßen vehement die surreale Hass- und Feindbildrhetorik von Linken im israelbezogenen Judenhass kritisieren, muss aufklären, was hinter Kampagnen wie BDS (Boykott, Deinvestition, Sanktionen) steht. Denn der Doppelstandard in Bezug auf die Verurteilungen von Antisemitismen ist einer der Gründe, warum es bislang keine flächendeckenden und effektiven Maßnahmen gibt.

Die Debatte um alle Formen von Judenfeindschaft muss – ohne Ausnahme – offener und rationaler geführt werden, ohne überzogene politische Korrektheit, ohne falsche Rücksichtnahme oder aus Sorge um soziale Reaktionen – und auch ohne Ansehen der Person. Wer wirklich etwas gegen Judenhass unternehmen möchte, der muss sich auch mit seinesgleichen anlegen, der darf konfliktäre Kommunikation und Kritik nicht scheuen. Unabhängig von Interessen und Rücksichtsnahmen muss die Bekämpfung auch international vonstatten gehen.

Wenn toleriert oder applaudiert oder auch nur geschwiegen wird, wenn im EU-Parlament judeophobe Stereotype kommuniziert werden, wenn Staatspräsidenten Verschwörungsfantasien von Macht und Geld artikulieren, wenn führende Politiker den jüdischen Staat als "Kolonial- und Unrechtstaat" diffamieren, ohne dass diese Antisemitismen mit aller Entschlossenheit zurückgewiesen werden, dann hat die internationale Politik ein Glaubwürdigkeitsproblem. Es reicht nicht, die Neonazis, Islamisten und BDS-Aktivisten auf der Straße zu kritisieren. Man muss auch den Blick nach oben, auf die Bühne der internationalen Politik werfen und dort entschieden eingreifen. Wer aus diplomatischer Netiquette und realpolitischen Überlegungen heraus schweigt, trägt zur Erstarkung und Tolerierung von Judenhass bei.

Toleranz gegenüber der Intoleranz ist tödlich – für Jüdinnen und Juden und schließlich auch für die Demokratie.

Im 21. Jahrhundert ist die antisemitische Büchse der Pandora weit geöffnet. Schöne Reden helfen dagegen nicht – nur ein sehr entschlossenes Vorgehen. Wahre Aufklärung ist am Ende immer schonungslos und unbequem und tut weh. Aber die Verpflichtung, die sich aus der Erinnerung ergibt und die in der Gegenwart die Zukunft gestaltet, hat keinen anderen Weg. Die Antisemitismusforschung zeigt, dass die Vergangenheit unsere Gegenwart massiv durchdringt und dass sie die Zukunft Europas weiterhin prägen wird, wenn Politik, Medien, Forschung und Zivilgesellschaft die modernen Formen der Judenfeindschaft halbherzig dulden und nicht endlich allumfassend sowie hart bekämpfen werden.

Lassen Sie mich mit einem Zitat enden, das schon oft genannt wurde, aber bislang ohne Wirkung verhallte. Es stammt von dem jüdischen Schriftsteller und Auschwitz-Überlebenden Primo Levi: "Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen: Darin liegt der Kern dessen, was wir zu sagen haben."


« zurück